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Sachbuch

Leena Simon – Digitale Mündigkeit

CN: Erwähnung von (digitaler) Gewalt, Krieg, sexuellem Missbrauch (nur im Buch und auch dort keine grafischen Beschreibungen)


Dieses Buch habe ich mir direkt zur Erscheinung 2023 bei digitalcourage vorbestellt, weil ich zu dem Zeitpunkt noch dachte, dass ich es für eine Hausarbeit im Rahmen meines Bildungswissenschaftsstudiums benutzen würde. Die Kombination aus Digitalisierung, Medienkompetenz und Mündigkeit war (und ist) für mich ein extrem spannendes Thema. Ich frage mich immer wieder, warum Menschen sich nicht mehr Mühe geben, ihr digitales Umfeld besser zu verstehen (und ich kenne viele Antworten auf diese Frage). Das Studium habe ich schweren Herzens aufgegeben und daher stand das Buch seit 2023 im Regal der ungelesenen Bücher.

Der Begriff Mündigkeit allein ist ja schon in höchstem Maße erklärungsbedürftig. Während der Lektüre bin ich selbst grandios gescheitert bei dem Versuch, den Begriff einer Person zu erklären, deren Erstsprache nicht Deutsch ist. Das von Immanuel Kant im Rahmen der Aufklärung geprägte Konzept ist weit verbreitet (und tief in der deutschen Sprache verwurzelt) und wurde von Theodor W. Adorno im 20. Jahrhundert erneut aufgegriffen. Die Definitionen dieser Denker könnt ihr auf Wikipedia (oder in Originalquellen) nachlesen, hier lest ihr meine eigene Interpretation.

Für mich ist Mündigkeit in höchstem Maße mit Verantwortung verknüpft. Als mündige Menschen übernehmen wir Verantwortung für unser Handeln. Wir treffen Entscheidungen und übernehmen dafür die Verantwortung. Um diese Entscheidungen verantwortungsvoll treffen zu können, benötigen wir Informationen. Diese Informationen müssen wir uns selbst beschaffen, sie werden uns nicht auf dem Silbertablett serviert. Wichtig ist jedoch auch die Bewertung dieser Informationen anhand eines moralischen Systems.

Es gibt nicht die eine Art, mündig zu sein. Mündigkeit ist eine Haltungsfrage. […] Es geht darum, die eigenen Handlungen zu hinterfragen, unbequeme Fragen zu stellen und unbequeme Erkenntnisse auszuhalten. Es geht darum, sich mit den Konsequenzen des eigenen Handelns im digitalen Raum zu konfrontieren und für sie Verantwortung zu tragen. 

Am Beispiel einer paternalistischen Ampel erklärt die Autorin, warum es von zentraler Bedeutung ist, dass Menschen stets die Macht über die Technik behalten, die sie umgibt. Eine reguläre Fußgänger:innenampel, wie wir sie heute kennen, lässt sich von einem einzelnen Menschen immer trotz Rotlicht überschreiten. Eine paternalistische Ampel würde das irreguläre Überschreiten der Ampel durch eine Mauer verhindern. Kommt es nun zu einer ungeplanten Situation (ein:e Radfahrer:in stürzt auf der Straße und braucht Hilfe), kann ein Mensch die Entscheidung der Ampel nicht überstimmen, wenn er durch eine Mauer am Betreten der Straße gehindert wird. Der menschliche Verstand würde uns selbstverständlich gebieten, bei freier Straße alles zu tun, um dem gestürzten Menschen zu helfen. Wenn uns jedoch die Technik daran hindert, die uns eigentlich schützen soll, hindert sie uns daran, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen und diese verantwortungsvoll umzusetzen.

Auch wenn solche Situationen nur in Ausnahmefällen vorkommen, verdeutlichen sie, warum es immer eine Möglichkeit zur Überbrückung der Technik geben muss. Es ist nicht möglich, alle Situationen vorherzusagen. Technik muss darauf eingestellt sein, dass es Ausnahmefälle gibt, in denen es notwendig ist, ihre Entscheidungen zu revidieren.

Um mündige Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen, braucht es also die Freiheit, das auch zu tun. Diese Freiheit wird in unserer heutigen Zeit zunehmend eingeschränkt. Paternalistische Technik nimmt uns etwa die Freiheit, mit welchem Programm wir unsere Daten bearbeiten wollen. Eine Datei, die in einem proprietären Format erstellt wurde, kann (oft) nicht mit anderen Programmen geöffnet oder bearbeitet werden. Auf viele Daten, die der Staat oder kommerzielle Unternehmen über uns sammeln, haben wir selbst überhaupt keinen Zugriff.

Die paternalistische Ampel ist ein extremes und gleichzeitig sehr praktisches Beispiel. Führen wir diesen Gedanken weiter, stoßen wir schnell auf die Frage, ob wir überhaupt noch versuchen würden, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn uns die paternalistische Ampel und ihre einschränkenden Geschwister ohnehin alle Entscheidungen abnehmen. Der Aufruf zur digitalen Mündigkeit ist deshalb so notwendig, weil viele Menschen in vielen Bereichen ihre Entscheidungsfreiheit bereits aufgegeben haben. Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, sich falsch zu entscheiden, gibt es auch keine Motivation mehr, überhaupt eigene Entscheidungen zu treffen. Wie das eigene moralische oder ethische Gewissen kann auch die Mündigkeit verkümmern, wenn wir keine Möglichkeit mehr haben, unsere Entscheidungen auch umzusetzen.

Wenn es keine Möglichkeit gibt, falsch zu handeln, kann sich kein Bewusstsein über richtig und falsch entwickeln. Die bewusste Entscheidung gegen das Falsche setzt voraus, dass man überhaupt die Wahl hat, das Falsche zu tun. 

Speziell bei staatlichen Freiheitseinschränkungen wird oft argumentiert, dass sie zu unserer eigenen Sicherheit geschehen. Dies können wir aktuell anhand der Diskussionen über eine europaweite Chatkontrolle verfolgen. Im Namen der Verbrechensbekämpfung (oder -verhinderung) sollen wir einen massiven Teil unserer Privatsphäre aufgeben. Warum die Aussage, ein gesetzestreuer Mensch hätte nichts zu verbergen, falsch ist, hat die Autorin bereits 2017 in einem Digitalcourage-Artikel, der im Buch ebenfalls in leicht abgeänderter Form vorkommt, dargelegt.

Unsere Entscheidungen und Handlungen haben Konsequenzen. Das gilt auch für das unmündige Handeln. Wenn wir immer mehr Handlungsfreiheit an staatliche oder kommerzielle Organisationen abtreten, indem wir uns durch technologischen Paternalismus einschränken lassen, geben wir Stück für Stück unsere Freiheit auf, selbst verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen.

Digitale Mündigkeit beginnt mit der Entscheidung, Verantwortung für das eigene Handeln in der Kommunikationsgemeinschaft zu tragen. Dafür müssen Sie sich die Gefahren Ihres Handelns bewusst machen und sich ihnen mit Zuversicht stellen. Alles andere kommt mit der Zeit.

Leena Simon behandelt in ihrem umfangreichen Buch noch viele weitere Gedankenexperimente, theoretische Exkurse und Digitalthemen und lädt dazu ein, selbst aktiv zu werden und sich mit dem mündigen Handeln in der digitalen Welt auseinanderzusetzen. Konkrete Anregungen, wie wir uns unsere Entscheidungsfreiheit in der digitalisierten Welt zurückerobern können, sind jedoch dünn gesäht. Dafür gibt es jedoch andere Quellen, eine davon ist zum Beispiel Dann haben die halt meine Daten. Na und‽ von Klaudia Zotzmann-Koch. Digitalcourage liefert mit ihrer Wissensreihe kurz&mündig Überblick und Anleitungen zu aktuell (November 2025) 32 Themen.

Eine der Antworten auf meine eingangs erwähnte Frage, warum Menschen sich nicht mehr Mühe geben, ihr digitales Umfeld besser zu verstehen, ist Zeit, eine andere Komplexität. Die meisten von uns sind täglich beruflich und/oder privat mit Entscheidungen konfrontiert, die unsere digitale Mündigkeit betreffen. Eine wichtige Botschaft von Leena Simons Buch ist, dass es sich lohnt, diesen Aufwand zu betreiben. Wenn wir uns nicht eines Tages in einer Dystopie wiederfinden wollen, in der uns alle Entscheidungen durch Technik abgenommen werden, ist es sinnvoll und notwendig, jetzt darüber zu reflektieren und mit der Entscheidung für mündiges Handeln den ersten Schritt zu tun. Mit meiner kurzen Zusammenfassung konnte ich euch hoffentlich Mut machen, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen.

Randnotiz: Als an Typographie und Layout interessierte Person ist mir an diesem Buch einiges aufgefallen, was ich in diesem Post nicht unerwähnt lassen will, aber nicht von den Inhalten ablenken soll. Äußerst positiv finde ich den Umgang mit Fußnoten, Endnoten und Quellen. Englische Zitate werden in Fußnoten übersetzt, ergänzende Informationen verlinkt. Quellen sind im Anhang umfangreich aufgelistet. Feststellen musste ich allerdings, dass die Verwendung einer serifenlosen Schrift im Fließtext das Lesen für mich manchmal erheblich erschwert hat. Witwen (alleinstehende Sätze am Anfang oder Ende einer Seite) stören mein persönliches Ästhetikempfinden. Möglicherweise wurde daran in überarbeiteten Ausgaben etwas verändert, ich habe wie oben erwähnt die Erstausgabe erworben. Den Inhalten tut dies natürlich keinen Abbruch, es war mir allerdings (für mein eigenes Archiv) wichtig, auch dazu ein paar Zeilen zu schreiben.

#12in2025: 9/12

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Roman

Françoise Sagan – Blaue Flecken auf der Seele

CN: sexuelle Handlungen (angedeutet), Suizid


Dieses Buch hatte ich aus irgendeinem Bücherschrank genommen. Der Titel hatte mich angesprochen, und dann auch die reduzierte Covergestaltung, die an Text nur den Nachnamen der Autorin und den Titel des Buches enthält zusätzlich zu einer Zeichnung zweier menschlicher Köpfe. Es handelt sich um liebliche Gesichter, das vordere mit längeren gelockten Haaren strahlt eindeutig feminine Vibes aus, beim hinteren Gesicht ist dies nicht so klar.

Beim Lesen ergibt sich, dass auf dem Cover wohl das Geschwisterpaar Eléonore und Sébastien zu sehen ist, zwei, die sich und einander genug sind. Um jedoch in Paris ein luxuriöses Leben zu führen ohne zu arbeiten, müssen sie sich in Gesellschaft begeben, wobei manchmal auch Herzen zu Bruch gehen.

Dies ist das Salz der Erde und dieses jämmerlichen Daseins. Nicht die Strände tauchen in den Traumkulissen auf, nicht der Club Méditerranée und nicht die Kameraden, sondern irgend etwas Zerbrechliches, Kostbares, das man heutzutage freiwillig verwüstet und das die Christen »Seele« nennen.

Der interessantere Teil des Buchs sind jedoch die Reflexionen der Autorin, die sie aus der Geschichte ihres Geschwisterpaares ableitet. Mir sagte der Name der Autorin nichts, obwohl Françoise Sagan einen Roman geschrieben hat, dessen Titel viele Menschen schon einmal gehört haben dürften: Bonjour tristesse. Sie schrieb diesen Roman im Alter von 17 Jahren und gelangte dadurch unmittelbar zu Berühmtheit. Blaue Flecken auf der Seele (original: Des bleus à l’ame) ist hingegen als Spätwerk zu betrachten (lt. Wikipedia im französischen Original 1972 erschienen). In ihren Exkursen philosophiert die Autorin etwa über die Gesellschaft, den Buchmarkt und das Schreiben. Gerade fällt mir keine bessere Umschreibung ein als dieses Zitat aus dem Klappentext:

Mit dieser Mischung aus scheinbar oberflächlich hingetupfter Handlung und Reflektion über ihr eigenes Leben hat Françoise Sagan endlich den Roman geschrieben, der sie von der Verfasserin von Bestsellern zur wirklichen Schriftstellerin herangereift zeigt.

#12in2025: 8/12

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English Roman

Gabrielle Zevin – Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow

CN: Tod eines Hauptcharakters, Gewalt, toxische Beziehung, sexuelle Belästigung, Suizid, Depression, Essstörung, Sexismus


Ein wundervoller Roman über eine wundervolle Freundschaftsbeziehung, kreativen Austausch und Videospiele. Wenn euch das irgendwie anspricht, dann hört hier auf und lest lieber das Buch ;-)

Im Weiteren werde ich ein paar Dinge beschreiben, die mir besonders gefallen haben (und versuchen, dabei nichts von der Geschichte zu verraten, aber siehe oben …).

Mir hat gefallen, wie Sams Behinderung nicht nur die Geschichte beeinflusst, sondern dass auch erklärt wird, wie sie sich auf seine Emotionen und Beziehungen auswirkt. Er möchte nicht schwach auf seine Mitmenschen wirken und gleichzeitig ist er so frustriert über seinen Körper, der ihn immer wieder im Stich lässt. An einer Stelle wird das so formuliert, dass Sam sich am glücklichsten fühlt, wenn er vergessen kann, überhaupt einen Körper zu haben. Dieses Unwohlsein in seinem eigenen Körper, diese große Verletzlichkeit bringt er in die Spiele ein, die er mit Sadie entwickelt.

Sometimes she didn’t even like him, but the truth was, she didn’t know if an idea was worth pursuing until it had made its way through Sam’s brain, too. It was only when Sam said her own idea back to her – slightly modified, improved, synthesized, rearranged – that she could tell if it was good.

Sadie und Sam lernen sich als Jugendliche kennen. Als sie als junge Erwachsene ihr erstes eigenes Spiel veröffentlichen, wird Sadie mit dem Patriarchat in der Gaming-Industrie konfrontiert. Sie fühlt sich nicht ernst genommen, die Verdienste werden Sam zugeschrieben, schließlich macht sie selbst Sam dafür verantwortlich, sie in den Hintergrund gedrängt zu haben. Gabrielle Zevin hat ein ausgezeichnetes Gespür dafür, wie sich strukturelle Ungerechtigkeiten auf eine kreative Freundschaftsbeziehung auswirken können. Sadies Unsicherheit über ihre eigenen kreativen Entscheidungen (wie sie sich im obigen Zitat auch widerspiegeln) gepaart mit der sexistischen Atmosphäre der Gaming-Industrie führen in ihrer kreativen Freundschaft langfristig immer wieder zu Konflikten.

She had thought she arrived. But life was always arriving. There was always another gate to pass through. (Until, of course, there wasn’t.)

Sadies Frustration mit ihren (Miss-)Erfolgen kann ich gut nachvollziehen. Ich muss mich immer wieder erinnern, dass es keinen Zustand geben wird, den ein Mensch erreichen kann und dann ist alles gut. Es bleibt alles immer im Fluss.

Auch der Titel wird im Buch ausgezeichnet erklärt: Ein Spiel kann immer wieder von vorn begonnen werden. Es ist eine unendliche Serie von Tomorrows, beim nächsten Versuch könnten wir gewinnen.

Für mich war besonders schön, dass der Fokus auf der kreativen Freundschaftsbeziehung zwischen Sadie und Sam lag. Es wird verdeutlicht, dass romantische Beziehungen nicht zwingend immer das Wichtigste im Leben sein müssen. Wie die gemeinsam ausgelebte Kreativität sich in Sadies und Sams Leben in Erfolge und Misserfolge verwandelt, wie diese Zusammenarbeit kreativer Geister ihrer beider Leben prägt, zeigt eindrucksvoll, dass romantische Gefühle nicht das Einzige sind, das Menschen fürs Leben aneinander binden kann. Herrlich illustriert wurde das auch in der Szene, als Sam von Sadie und Marx im Krankenhaus besucht wird und die diensthabende Krankenschwester rätselt, in welcher Beziehung die drei wohl zueinander stehen.

Große Empfehlung meinerseits!

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English Erfahrungsbericht Sachbuch

bell hooks – communion

CN: Ich möchte darauf hinweisen, dass in diesem Buch ein sehr binäres Geschlechterrollenbild vertreten wird, das 25 Jahre nach der Erscheinung nicht mehr zeitgemäß erscheint.


Most women search for love hoping to find recognition of our value.

Ich habe das Gefühl, ich müsste ein Referat über dieses Buch schreiben, weil ich so lange gebraucht habe, um es zu lesen und so viele Notizen gemacht habe. Beim ersten Versuch habe ich irgendwann in der Mitte aufgehört, weil ich mich so aufgeregt habe, zu lesen, dass wir Frauen nie echte Liebe finden werden können, so lange wir uns nicht selbst lieben. Das hat in mir einen derartigen Widerwillen ausgelöst. Es ist genau genommen das Umgekehrte zu dem, was das Buch eigentlich vertritt und ich konnte die konkrete Stelle auch beim zweiten Mal lesen nicht mehr finden. Für mich war diese (vermeintliche) Aussage ein rotes Tuch. Wenn du erst … fünf Kilo abgenommen hast / bei irgendeinem wichtigen Thema mitreden kannst / programmieren gelernt hast / … dich selbst liebst, DANN WIRST DU ES WERT SEIN, GELIEBT ZU WERDEN. Da werde ich wirklich krawutisch. Und das Buch sagt das auch eigentlich nicht, wie ich bei einem zweiten Leseversuch mit ausführlichen Notizen nun dokumentieren konnte.

Love is the foundation on which we build the house of our dreams. It’s a house with many rooms. Relationships are part of the house, but they are not everything and never could be. The key is balance.

Aus meinen vielen Notizen will sich kein Referat Text ergeben, ich zähle daher hier ein paar Kernpunkte auf:

  • Patriarchat. Führt dazu, dass Frauen sich von Anfang an wertlos fühlen und denken, dass sie sich Liebe erst „verdienen“ müssten. Dass Frauen sich um andere Menschen kümmern, ist nicht „von Natur aus“ gegeben, sondern gesellschaftlich anerzogen.
  • Feminismus. Vieles hat sich geändert und trotzdem sind Frauen nach wie vor weder gleich gestellt noch wirklich frei. Zuerst die sexuelle Befreiung (finden Männer toll, solang es dazu führt, dass Frauen verfügbar und offen für alles sind, aber nicht, wenn es darum geht, dass Frauen wirklich über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen, indem sie zum Beispiel auch Nein sagen), dann der Arbeitsplatz (Frauen gehen arbeiten und kümmern sich trotzdem noch um Haushalt und Kinder). Emotional hat sich sowieso nichts geändert, für Gefühle sind nach wie vor Frauen zuständig, Männer reden über sowas nicht.
  • Kulturell gesehen ist Liebe Frauensache. Die Beziehungsratgeber der 1990er (Männer sind vom Mars usw.) haben es klar gemacht: Wenn Frauen bessere Beziehungen wollen, dann müssen sie selbst dafür sorgen. Indem sie die Emotionen der Männer hinnehmen und managen, sie aber nicht damit belästigen. Frauen sind dafür zuständig, dass eine Beziehung „funktioniert“.
  • Body Shaming. Fängt meistens in der Familie an und zwar durch die weiblichen Familienmitglieder. Hier schließt sich der Kreis zu meinem oben genannten Widerwillen: Es geht darum, den eigenen Körper zu akzeptieren, was uns eigentlich von Familie und Gesellschaft systematisch abtrainiert wird. Solange wir glauben, dass wir erst dann „liebenswert“ („worthy of love“) sind, wenn wir körperliche Standards erfüllen, werden wir immer nach einem unerreichbaren Ideal streben, anstatt uns mit den wirklich wichtigen Themen zu befassen.
  • Weibliche Solidarität. Es ist einfacher, auf andere Frauen loszugehen, anstatt sich gegen das gesellschaftlich verankerte Patriarchat aufzulehnen. Den Erfolg einer anderen Frau zu feiern widerspricht der Grunderzählung („fairy tale logic“), mit der wir aufgewachsen sind: Dass nur eine einzige Frau gewählt werden kann.

Midlife for many of us has been the fabulous moment of pause where we begin to contemplate the true meaning of love in our lives. […] This is often the time in a woman’s life when she begins to seriously evaluate and critique the values that have shaped her life.

Das Buch ist geprägt davon, dass sich die Autorin nun selbst in der „Mitte des Lebens“ befindet. Sie reflektiert, sie will ihre eigenen Erkenntnisse an die jüngeren Frauengenerationen weitergeben. Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit, aber vielleicht können wir ihn beschleunigen, wenn wir auf den Erkenntnissen älterer Frauengenerationen aufbauen. Wir müssen unsere Kinder nicht in die Rosa-Hellblau-Falle laufen lassen und ihnen vermitteln, dass nur Mädchen weinen oder über Gefühle reden dürfen. Wir können unseren eigenen Umgang mit Medienidealen hinterfragen, damit unsere Töchter, Nichten, Enkelinnen nicht bis zur Menopause brauchen, bis sie ihren eigenen Körper so akzeptieren können, wie er ist. Dann klappt das vielleicht auch endlich mal: Smash the patriarchy by redefining love!

#12in2025: 7/12

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Bildband Sachbuch

Rainer Metzger (Hg.) – Wien um 1900

CN: Suizid Erwähnung (nur im Buch)


Aus Recherchegründen (mein Hinterkopf bastelt weiter an einem Geocache-Rätsel, das ich gern schon längst fertig hätte) hatte ich mir gleich drei Bücher zum Thema Jugendstil aus der Bücherei geholt, die dann ewig als Stapel auf meinem Kreativtisch herumgelegen sind. Immerhin dieses eine habe ich jetzt noch gelesen, bevor die Frist der Verlängerungen endgültig abläuft.

Das Wien um 1900 findet vielfach statt in einer solchen Interferenz von Zeitschichten, in denen die verschiedenen Epochen geradezu sedimentiert scheinen.

Genau kann ich noch nicht festlegen, warum mich gerade diese Epoche so interessiert, aber ein paar Hinweise haben sich inzwischen angehäuft:

  • Bestätigen konnte ich hier wiederum, dass mir die Kunst der damaligen Zeit einfach optisch gefällt. Otto Wagners Kirche am Steinhof ist eine Pracht, daran erinnerte ich mich erst kürzlich wieder, weil mein lieber Freund M. nun in Hietzing wohnt und von seinem Balkon im dritten Stock tatsächlich die Kuppel der Kirche sehen kann.

Ihre Reform1 sollte nicht nur eine dringend nötige Erneuerung des Kunstbegriffs in die Wege leiten, sondern die Einheit von Kunst und Leben an sich.

  • Die Einheit von Kunst und Leben an sich. Für die Künstler der Wiener Secession (ja, damals leider nur Männer) war es wichtig, dass sich die Künste zu einem Gesamtbild vereinten. Auf die gewünschte Erneuerung des Kunstbegriffs verweist auch der Titel der Zeitschrift Ver Sacrum (Heiliger Frühling), die von der Wiener Secession herausgegeben wurde. Malerei, Architektur und Plastik sollten als Gesamtkunstwerk zusammenarbeiten.

„Wir kennen keine Unterscheidung zwischen ‘hoher Kunst’ und ‘Kleinkunst’, zwischen Kunst für die Reichen und Kunst für die Armen. Kunst ist Allgemeingut“, ist im Editorial der ersten Ausgabe von Ver Sacrum zu lesen, […].

  • Eine Demokratisierung der Kunst zeichnete sich ab. Was zuvor dem Adel vorbehalten war, wurde nun auch dem Bürgertum zugänglich.
  • Nicht zuletzt habe ich gelernt, das die Begrifflichkeit der „fröhlichen Apokalypse“ aus dem Buch Hofmannsthal und seine Zeit stammt, das Hermann Broch (1886–1951) verfasste. Es beschreibt die Weltuntergangsstimmung des Liberalismus und der Moderne, die dann in weiterer Folge in den ersten Weltkrieg führte. Ich kannte den Begriff als Titel aus dem Musical Elisabeth, in dem eine frühere Epoche abgehandelt wird. Dabei sitzen Männer im Kaffeehaus, lesen aus der Zeitung vor und langweilen sich. Auf der Bühne wurde das damals dynamisch dargestellt: die Kaffeehaustische befanden sich in Autodrom-Wagen, es sah aus, als würden die Darsteller diese Wägelchen durch Drehen an den Tischen lenken. Bei jüngerem Publikum (Theater der Jugend-Abo) rief das reproduzierbar Erheiterung hervor.
  • Eine interessante Herleitung fand ich am Ende des Essays Böser Dinge hübsche Formel von Herausgeber Rainer Metzger. Er beschreibt die Sehnsucht der Secessionszeit nach dem Gesamtkunstwerk, das aber trotzdem noch individualistische Züge haben durfte. Nach dem 1. Weltkrieg folgte die Zeit der Masse, es entsteht ein kollektiver Wille, wie Sigmund Freud diagnostiziert:

Es ist die Masse. Damit sie funktioniert, sagt Freud, muss an eine Instanz delegiert werden, durch die eine Art kollektiver Wille entsteht. Die Masse wird das Schlüsselwort, das Schlüsselphänomen für die kommende Epoche. Derjenige, der den kollektiven Willen auf eine Weise in seine Bahnen lenken wird, die bis dahin unvorstellbar war, ist seinerseits ein Produkt des Wien um 1900.

Mit dieser Epoche bin ich noch nicht fertig. Ich habe den Bildband über Antoni Gaudí neben mir liegen, der mich schon seit Jahrzehnten begleitet. Gerade erst habe ich auf LitHub einen Artikel über Ernst Haeckel und seine Kunstformen der Natur gelesen, die vielen Künstler:innen als Inspiration dienten. Bin gespannt, was ich demnächst alles aus der Bücherei nach Hause trage (und hoffe, dass ich diesmal auch mehr davon lesen werde).

  1. Anm.: Gemeint ist die von der Wiener Secession durch deren Gründung vorgenommene Reform. Die beteiligten Künstler spalteten sich von ihrer Standesvertretung ab und gründeten ihre eigene Vereinigung Bildender Künstler Österreichs. ↩︎
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Spanish

Ciro Alegría – Fábulas y leyendas americanas

CN: Gewalt gegen Tiere, Tod


FYI: Level 1301 auf Spanisch bei der grünen Eule und eine 1.748-Tage-Streak bedeuten nicht, dass du auch tatsächlich in dieser Sprache lesen kannst.

Monatelang habe ich mich jetzt mit diesen Geschichten herumgetragen. Es müsste doch möglich sein, Geschichten, die jeweils nur wenige Seiten lang sind, zu lesen und zu verstehen. Begonnen habe ich mit großem Enthusiasmus und dem Versuch, alle mir unbekannten Vokabeln nachzuschlagen und zu notieren. Beendet habe ich mit dem simplen Wunsch, dieses Buch endlich zu beenden. Nachgeschaut habe ich da nur noch jene Vokabeln, die ich unbedingt brauchte, um den Sinn der Geschichten zu verstehen.

Irgendwie bin ich jetzt wieder auf so einer Zwischenebene, wo ich das Ende der einfach und frei verfügbaren Lehrmittel erreicht habe, aber noch nicht fließend lesen kann. Bei Toots auf Mastodon gelingt mir das meistens. Wenn ich mir bei einem Wort nicht ganz sicher bin und die Übersetzungsfunktion anwerfe, hilft mir das meistens auch nicht weiter, weil genau dieses Wort dann nicht oder falsch übersetzt wird.

Die Geschichten in diesem Buch sind Sagen und Legenden aus Südamerika, die Protagonist:innen sind meistens Tiere, manch tapferes Menschlein kommt aber auch zu seinem Auftritt. Ein Beispiel (Geschichte von mir zusammengefasst):

  • Ein Tiger und ein Hirsch bauen mehr oder weniger versehentlich zusammen ein Haus. Als sie sich dann die Essensbeschaffung teilen wollen, kommt es zum Eklat, als der Tiger einen anderen Hirsch als Abendessen anschleppt. Die Wohngemeinschaft ist nur von kurzer Dauer.

Weil Aufgeben ja nicht in Frage kommt, hab ich mir gerade in der Onleihe drei Bücher rausgesucht, mit denen ich weitermachen kann. Mal schauen, ob die mir dann wieder zu einfach oder zu schwierig sein werden (die spanischsprachigen Bücher, die jetzt noch im Regal stehen, schaffe ich dieses Jahr garantiert nicht mehr …).

#12in2025: 6/12

  1. Level 130 bei Spanisch bedeutet hier: Der Kurs ist zu Ende, du erhältst tägliche Wiederholungsaufgaben, aber – soweit ich das bisher erkennen konnte – keine neue Inhalte mehr. ↩︎
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Fantasy Roman

Eleanor Bardilac – Knochenblumen welken nicht

CN: sexuelle Belästigung (verbal), Gore (Sezieren von menschlichen Schädeln), Töten eines Tiers und Verspeisen seines Herzens (Flashback), Charaktertod, Blut, Gewalt

[Ich finde es sehr angenehm, die Content Notices aus dem Buch abschreiben zu können, die Autorin hat sie sogar kapitelweise aufgelistet. 💜]


Um mich wieder mehr ins Lesen zu bringen, griff ich zu einem Buch auf der „falschen“ Seite des Regals der ungelesenen Bücher. Es handelt sich um jene Bücher, die erst seit diesem Jahr im Regal stehen und damit nicht zu meiner Buch-Challenge #12in2025 zählen. Das Experiment hat jedoch gefruchtet und ich fühle mich wieder mehr im Fluss sowohl fürs Lesen als auch fürs Schreiben. Dieses Buch ist außerdem in den Leseempfehlungen enthalten, die ich im April 2014 gesammelt habe. Danke an dieser Stelle auch an das liebe Wesen, das mir drei Bücher aus seiner Sammlung geliehen hat, von denen nun nur noch zwei auf der „falschen“ Seite des Regals stehen.

Die Geschichte spielt in einer Fantasie-Welt, deren Gesellschaft von einer zunehmenden Spaltung zwischen magischen und nicht-magischen Wesen bestimmt ist. Zu Beginn wird die Protagonistin Aurelia als magisch entlarvt, was ihre Eltern durch Medikamente und Isolation zu verbergen versuchten. Aurelia landet nun im magischen Teil der Gesellschaft, wodurch ihr Weltbild zutiefst in Frage gestellt wird. Dadurch lernt auch die Leser:in mehr über das Wesen dieser Welt, ihre Regeln und Gebräuche, ihre Stärken und Schwächen. Dieses Worldbuilding erfordert Zeit und Raum; die Mordfälle, in die Aurelia als Zeugin verwickelt ist, werden lange Zeit in den Hintergrund gedrängt.

Was mir zuerst zu langsam vonstatten ging, wurde aber mit der Zeit zu einem äußerst angenehmen Gefühl. Aurelia lernt verschiedene Wesen der magiebegabten Welt kennen, darunter finden sich Repräsentationen, die in vielen anderen Romanen kaum vorkommen: Wesen mit Behinderungen (zum Beispiel mit einer Beinprothese aufgrund einer Kriegsverletzung), Wesen, die auf besondere Art kommunizieren (zum Beispiel Gebärdensprache), Wesen, die aufgrund ihrer speziellen Magiebegabung selbst in der Welt der Magie eher an den Rand gedrängt werden. Die Autorin lässt Aurelia in der Begegnung mit dieser unbekannten Welt ihre eigenen Werte und ihre eigenen Persönlichkeitszüge hinterfragen. In dieser Auseinandersetzung wächst sie an sich selbst, was sich am Ende des Buchs ganz deutlich in ihren Entscheidungen zeigt.

Schwäche zu zeigen hatte noch nie zu ihren Stärken gehört, und sie hasste es, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle hatte, dass der Lärm und die Leute und die Weite der Stadt sie so verrückt machten, dass sie selbst hier unter anderen Magiebegabten nicht normal sein konnte.

Vermutlich aus aktuellem Anlass hatte ich sehr viel Spaß mit der Idee des magischen Hauses, das sich selbstständig an seine Bewohner:innen anpasst. Diese undefinierbare magische Präsenz mag gruselig erscheinen (Überwachung?), für Aurelia empfindet sie aber offensichtlich freundschaftliche Gefühle und steht ihr helfend zur Seite. Mehr gelesen hätte ich gern vom magischen Skelett-Affen und dem Geist, der in der Schlafzimmeruhr lebt. Diese Ideen wurden für mein Gefühl nur angerissen und hätten durchaus mehr Backstory bzw. eine Rolle in der Auflösung vertragen können.

Im Vergleich zum langsamen Aufbau der Geschichte erschien mir das Ende dann zu abrupt (als wäre der Autorin die Zeit ausgegangen). Dies bleibt jedoch ein verschmerzbarer Wermutstropfen an diesem sonst sehr gelungenen Stück Fantasy-Literatur. Die Idee einer Welt, in der viele Menschen versuchen, das Richtige zu tun, auch wenn es sich manchmal im Einzelnen extrem falsch anfühlt, liegt vielen Geschichten zugrunde, ich persönlich finde sie hier besonders gut umgesetzt.

Randnotiz: In Wien Penzing wird gerade eine genossenschaftlich organisierte Buchhandlung begründet. Es soll auch ein 3. Ort für die Gegend werden. Ich habe das Crowdfunding unterstützt, vielleicht ist das ja auch was für euch.

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Erfahrungsbericht Sachbuch

Katja Kullmann – Generation Ally

CN: Andeutung sexueller Handlungen und sexueller Belästigung


Dieses Buch hat (in meinem Besitz) eine Geschichte und ich werde sie erzählen. Es begab sich kürzlich, dass ich aus aktuellem Anlass der Ansicht war, es wäre sinnvoll, meine für nächstes Jahr geplante Buch-Challenge frühzeitig zu starten. Inzwischen haben sich die Informationen wieder geändert und die Buch-Challenge des aktuellen Jahres steht wieder im Vordergrund. Nichtsdestotrotz habe ich aber nun dieses Buch, das ich vor der Existenz dieses Blogs erworben und gelesen habe, einem zweiten Blick unterzogen und muss nun wohl oder übel meine Beziehung/Meinung dazu einem Update unterziehen.

In meinen Zwanzigern war ich ein großer Fan der TV-Serien Ally McBeal und Sex and the City. Heute kann ich im Rückblick sagen, dass ich damals zutiefst orientierungslos war, konfrontiert mit dieser riesigen Palette an Entscheidungsmöglichkeiten, die einem als junge Erwachsene (mit gewissen Privilegien) offen stehen. Die Protagonist:innen der oben genannten TV-Serien waren immer etwas älter als ich (laut Katja Kullmanns Definition gehöre ich nicht zur Generation Ally, ich wurde erst nach dem von ihr festgesetzten Zeitraum geboren). Diese TV-Serien der späten 1990er-Jahre zeigten Frauen, die auf verschiedene Arten erfolgreich in ihrem Beruf waren, sie hatten aber genauso Sorgen und Unsicherheiten. Sie scheiterten an und in Beziehungen und machten trotzdem immer weiter. Ich stelle mir vor, dass ich ihre „Gesellschaft“ damals als tröstlich empfand, mich weniger allein fühlte in der „Gemeinschaft“ mit anderen Frauen, die stolpern, manchmal nicht weiter wissen und trotzdem ihren Weg gehen.

Die Autorin Katja Kullmann hat sich in den späten 1990er-Jahren Ally McBeal und ihre Epochengenoss:innen zum Aufhänger genommen, um eine Analyse (?) zu verfassen zum Thema: Warum es heute so kompliziert ist, eine Frau zu sein. Der Zeitrahmen Heute beschreibt in dem Fall die späten 1990er-Jahre, das Buch wurde 2002 veröffentlicht. Basis ihrer Analyse sind ihre eigenen Erfahrungen, die sie als Heranwachsende in Deutschland gemacht hat. Dabei wechselt sie zwischen dem Herumwerfen von Klischees in alle möglichen Richtungen und einem Grundgejammer über Mann, Frau und Gesellschaft sowieso. Und hier füge ich nun (in der 34. Überarbeitung dieses Texts) die Grundfrage ein, die ich bis jetzt nicht abschließend beantworten konnte: Ist es eine Analyse? Ist es Satire? Will die Autorin sich beschweren über die Komplexität des heutigen (damaligen) Frauenlebens? Ruft sie dazu auf, unsere Freiheiten besser zu nutzen? Und was hat das eigentlich mit Ally McBeal zu tun?

Hier hatte er also die vergangenen Jahre überdauert, der Feminismus: in den muffigen Fachschafts-Bibliotheken, in den Gewerkschaftshäusern mit den filzigen Teppichböden.

Wo ich mich selbst (bzw. mein jüngeres Ich) wieder erkannt habe, ist Kullmanns Zugang zum Feminismus. Sie beschreibt ausführlich die Haltung, mit der ich selbst Anfang 20 durchs Leben gegangen bin: Das mit dem Feminismus und der Gleichstellung, das muss doch alles schon erledigt sein, das kann ja wirklich nicht sein, dass das heute noch ein Thema ist. Sie schreibt von bereits damals erlebten Debatten über Genderschreibweisen (vor 25 Jahren! und das geht im Jahr 2025 immer noch so!), die sie und ihre Geschlechtsgenossinnen (und auch ich damals) als „Luxusproblem“ betrachteten, die mit dem realen Leben nichts zu tun haben. Mir wurde als Kind vermittelt, dass ich alles erreichen könnte, wenn ich mich nur genügend anstrenge, dass meine Leistung etwas zählen würde. Logischerweise wollte ich keine „Quotenfrau“ sein. Wenn die Leistung stimmt, dann muss es doch auch ohne Quote gehen. Fassungslos musste ich über die Jahre das Ausmaß meiner Naivität erkennen und die Tatsache, dass von Gleichstellung eben noch lange keine Rede sein kann.

Das Problem ist: Je mehr solcher Drei-Wetter-Taft-Frauen es gibt, je öfter sie betonen, dass alles bloß eine Frage der Organisation ist, desto weniger trauen wir uns, den Mund aufzumachen. 

Das obige Zitat beschreibt ein Phänomen, das mir ebenso wohl bekannt ist (ich habe viele Jahre lang „Frauenmagazine“ konsumiert): Superwoman, die alles unter einen Hut bringt. Immer top gepflegt und stilvoll gestylt, erfolgreich im Job, geliebte Mutter von mindestens zwei Kindern, glücklich verheiratet mit einem ebenfalls erfolgreichen Cis-Hetero-Mann. Werden erfolgreiche Frauen heute gefragt, wie sie das schaffen, geben sie (meistens) zu, dass sie eine Haushaltshilfe oder Kinderbetreuung (bezahlt oder familiär) haben, das war jedoch lange nicht der Standard. Lange Jahre wurde vermittelt, dass wir tatsächlich alles haben können, wenn wir es uns nur richtig organisieren. Die Formulierung war schon immer missverständlich. Wir haben heute mehr Wahlmöglichkeiten als früher, das heißt aber nicht, dass wir alles zur selben Zeit haben können. Inzwischen möchte ich jedes Mal laut schreien, wenn davon die Rede ist, dass ein Mann seine Partnerin „im Haushalt und bei der Kinderbetreuung unterstützt“. Als ob das allein Sache der Frau wäre, die dankbar sein muss, wenn der Mann sich gnadenhalber herablässt, etwas beizutragen …

Ein weiterer Punkt, bei dem ich zustimmend nicken muss, ist das Lachen über frauenfeindliche Witze. Wie die Autorin zurecht feststellt, haben wir mitgelacht, wenn prominente Männer „tief in die frauenfeindliche Kalauerkiste griffen“. Warum auch nicht, wir fühlten uns ja nicht mitgemeint, wir hatten die weiblichen Klischees, die da verlacht wurden, ja sowieso längst hinter uns gelassen. Es gibt Momente, in denen ich mir diese Zeit zurückwünsche. Es war einfacher, mitzulachen ohne nachzudenken. Heute überlege ich mir in so einer Situation immer, ob es sich lohnt, jetzt den Mund aufzumachen.

Das knallpinke Cover mit einer türkisblauen Handtasche darauf, suggeriert ein „Frauenbuch“, obwohl die Autorin laut eigener Angabe noch nie eines gelesen haben will. Die den einzelnen Kapiteln, die Themen wie Karriere, Mutterschaft und Partnerschaft behandeln, vorangestellten Zitate aus Ally McBeal weisen bereits auf etwas hin, das ich durch meine rosarote Retrobrille nicht sehen konnte: Die Autorin hasst Ally McBeal. Sie benutzt diese TV-Figur rein als Aufhänger, um ihren Text an die Frau zu bringen. Was bleibt, ist ein Text, der als Rechercheobjekt für die Geschlechterrollenbilder der Jahrtausendwende dienen mag. Menschen, die in Kullmanns Generation Ally (Geburtsjahrgänge 1965–1975) aufgewachsen sind, mögen nostalgische Gefühle erleben anhand der vielen popkulturellen Referenzen.

Einen Ansatz derAufklärung darüber, was dieser Text eigentlich sein will, liefert übrigens Katja Kullmanns Vorwort zum „Generation Ally Lifestyle-Guide“ von Birgit Hamm (das türkisgrüne Cover zeigt einen pinken Puschelpantoffel mit Absatz):

Florian Illies lieferte 1998 mit Generation Golf das Poesiealbum zur Ära, »aus Raider wurde Twix, sonst änderte sich nix«, hieß es darin. 2002 erschien Generation Ally, quasi als Fortschreibung der Generation Golf über die neunziger Jahre bis ins Heute – diesmal aus weiblicher Sicht und mit dem bitteren Fazit, dass es insbesondere die jungen Frauen gar nicht so weit gebracht haben, wie geheimhin angenommen.

EDIT 4. November 2025: Aus Krankheitsgründen hab ich dann doch den „Generation Ally Lifestyle-Guide“ von Birgit Hamm auch noch gelesen. Hier ist wenigstens von Anfang an klar, worauf die Leser:in sich einlässt: Ein A bis Z über das Leben in den 1990ern. Mir Buffalo Boots, Rucola und Tamagotchi.

Was wir fast vergessen hätten, was uns peinlich ist und was wir heute immer noch lieben.

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Roman

Sofi Oksanen – Fegefeuer

CN: Krieg, Gewalt, Vergewaltigung, Folter, Mord, sexuelle Handlungen, sexueller Missbrauch, Prostitution


Mit diesem Buch hatte ich echt meine Schwierigkeiten. Zuerst musste ich feststellen, dass es nicht die Antworten für den Literatur-Geocache enthielt, die ich erwartet hatte. Dann fand ich die Geschichte äußerst traurig, frustrierend und schwer zu lesen. Die Handlung findet auf zwei Ebenen statt, wir lesen einerseits von der alten Aliide Truu, die allein auf ihrem Hof lebt und das Mädchen Zara aufnimmt, das plötzlich allein und hilflos auf ihrem Hof auftaucht, und andererseits von der jungen Alide Truu, die in West-Estland in einer gebeutelten Gegend aufwächst. Wäre nicht die Frage offen gewesen, wo das Mädchen Zara hergekommen ist, hätte ich vermutlich gar nicht weiter gelesen. So unsympathisch ist schon das junge Mädchen Aliide: eifersüchtig auf die Schwester, verliebt in deren Ehemann Hans, fühlt sie sich immer übersehen und nie in irgendeiner Weise wertgeschätzt.

Jetzt würde er Aliide wahrnehmen müssen. Und vor allem würde Hans endlich Liides eigenes besonderes Wesen erkennen müssen, wie fabelhaft sie die Geheimnisse der Pflanzen kannte und die Heilkunst beherrschte. […] Jetzt musste Hans das begreifen!

Zaras Schicksal ist nicht minder düster. Sie lässt sich aus ihrer Heimat in Wladiwostok weglocken, um in Europa zu arbeiten und sich Geld für ihr Studium zu verdienen. Sie landet in einem Mädchenhändlerring und wird zur Prostitution gezwungen. Auf der Flucht vor ihren Peinigern landet sie nicht zufällig auf Aliide Trus Hof: Sie ist auf der Suche nach ihrer Familie und hat ein Jugendfoto von Aliide und ihrer Schwester bei sich.

Das Ende des Buchs bilden mit dem Vermerk „Streng geheim“ gekennzeichnete Dokumente, in denen von Observationen, Spionage, Verbrechen und Agent:innen zu lesen ist. Hier kommt erneut zum Vorschein, dass Aliide sich selbst in ihrer Ehe mit Parteigänger Martin nie wirklich sicher fühlen konnte. Sowohl Martin als auch Aliide könnten selbst Spione gewesen sein, ohne voneinander gewusst zu haben. Selbst dem Ehepartner kann in einem diktatorischen Regime nicht vertraut werden.

Es muss noch ermittelt werden, ob die zu observierende Zielperson bemüht ist, geheime Informationen für das Ausland zu sammeln. Falls das so ist, wird man ihm »geheime« Desinformationen zuspielen.

Eine belastende Geschichte, über die ich auch lange nicht schreiben wollte.

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English Fantasy Roman

T. Kingfisher – A Sorceress Comes To Call

Mit einer absoluten Neuheit auf diesem Blog: ein Restaurantbericht im Anschluss an die heutige Buchbesprechung!

CN: Mord, Gewalt gegen Menschen und Tiere, Missbrauch von Elternteil an Kind (hauptsächlich psychisch), ein paar grausige Details


Ein weiteres Buch aus der Nominierungsliste für die diesjährigen Hugo Awards, inzwischen wissen wir ja auch, welches Buch gewonnen hat: The Tainted Cup. Wenig überraschend ist da jetzt eine mehrmonatige Warteliste in der eLibrary, es wird sich beim nächsten Book Club zeigen, ob wir das vielleicht noch käuflich erwerben.

The novel was inspired by the Brothers Grimm fairy tale “The Goose Girl“.[1] It takes inspiration from both regency romance novels and Gothic horror.[2]

Die Ankündigung, dass es sich um eine Neuinterpretation eines klassischen Märchens der Gebrüder Grimm handelt, hatte mich nicht unbedingt für das Buch eingenommen. Aber dann brauchte ich eine leichte Lektüre zur Ablenkung und dafür hat es dann gut gepasst. Einen Hugo Award würde ich dafür aber nicht vergeben …

Auf der positiven Seite möchte ich anmerken, dass die Hauptprotagonist:innen allesamt starke weibliche Charaktere sind. Erzählt wird aus der Perspektive von Cordelia, 12-jährige Tochter einer dominanten Mutter, die mit ihren magischen Fähigkeiten Cordelias Benehmen kontrolliert, wenn sie dies für die Umsetzung ihrer eigenen Machenschaften für notwendig hält. Als Cordelia mit ihrer Mutter ihre Heimat verlassen muss und beim Squire und seiner Schwester Hester einzieht, erkennt Cordelia immer mehr, das ihre Mutter mit ihren Handlungen bewusst anderen Menschen Schaden zufügt. Hester hingegen hat sich mit ihrem Leben als ältliche Jungfer, die im Haushalt ihres Bruders lebt, abgefunden. Als Cordelia und ihre Mutter Evangeline (von Hester in Gedanken äußerst passend Doom genannt, ich würde es hier mit Verhängnis übersetzen) in ihrem Haushalt auftauchen, wird ihre Welt durcheinander gewirbelt.

She was never certain what to do when Evangeline was in a good mood. Bad moods were at least predictable.

Es entspinnt sich eine Geschichte, in der sich Cordelia – ermutigt von Hester und ihren Hausgästen – Stück für Stück von ihrer Mutter distanziert und sich dann sogar gegen deren Handlungen auflehnt. Zu Beginn zeigt Cordelia dabei eindeutige Zeichen eines Anxious – ambivalent attachment nach der Attachment theory. Von der anfänglichen Cordelia, die zu einer starken Persönlichkeit heranwächst, ist es ein langer Weg. Das zeigt sich auch an der Geschichte, die einige Längen aufweist und da und dort sicher gestrafft werden hätte können. Bin mir nicht sicher, ob das bei Fantasy-Geschichten oft so ist oder ob es nur mir bei den Hugo Award Finalists so ging?

Fun Fact am Rande: An einer Stelle wird Rosmarin als charm against sorcery erwähnt. Mir fiel das hauptsächlich auf, weil es auch in Someone You Can Build a Nest in als Gift gegenüber Shesheshen angewandt wurde. Eine kurze Internetsuche wirft mir soviel Unsinn über die magischen Eigenschaften und Bedeutungen von Rosmarin entgegen, dass ich dieses Tab schnell wieder zumache, um mich anderem Unsinn zuzuwenden.


gelbe Modellbahnlokomotive auf Schienen, am Führhäuschen sind zwei Schilder befestigt, einmal das Logo Vytopna, einmal der Name Mariana, die Lok fährt nach links aus dem Bild, im Hintergrund ist ein Bierglas und ein längliches Essgefäß zu sehen

Kürzlich hat mich der Mitcacher spontan in ein besonderes Restaurant entführt. Ich war zuerst nicht so begeistert, dass wir uns deutlich aus unserem gewohnten Umkreis entfernten, weil ich an dem Tag schon einige Schritte absolviert hatte. Es hat sich jedoch sehr gelohnt! Im Vytopna am Naschmarkt gibt es Bier und Fleisch. Und es wird mittels Modelleisenbahn serviert!

ein großes Glas mit dem Logo Pantograph, das Glas steht in einer Halterung mit zwei freien Plätzen daneben, es enthält unten gelbe Flüssigkeit, die nach oben hin heller wird, einen schwarzen Strohhalm und eine Orangenscheibe, die oben über den Rand schaut

An diesem Abend hatten wir Glück, es war nicht viel los, wir bekamen ohne Reservierung einen Platz an der Theke in der Nähe des Servicebereichs. So konnten wir schon beobachten, wenn Essen und Getränke auf den Modellbahnen angerichtet wurden und waren bereit, wenn gerade wieder eine Bahn an uns vorbeifuhr.

Blick in einen Gastraum, links lange Tische, auf denen Modellbahnschienen verlegt sind, rechts verlaufen ebenfalls Schienen an der Wand entlang, in einer Nische drei Schienenende mit Puffer, zentral hinten im Raum ein Modell einer Burg

15 digital gesteuerte Züge, 600 Meter Gleis und 9 Zugbrücken

graue Modellbahnlokomotive auf Schienen, am Führhäuschen sind zwei Schilder befestigt, einmal der Name Berta, darunter die Ziffern 202-011, die Lok fährt nach links aus dem Bild, im Hintergrund ist die Hand einer Person neben einem Limonadenglas zu sehen

Das Essen wird in speziellen Gefäßen serviert, die auf das Format eines Modellbahnwaggons zugeschnitten sind. Du nimmst das Gefäß vom Waggon, kannst den Deckel des Gefäßes dann gleich wieder mit zurückschicken. Die Getränke werden in Getränkehaltern auf den Waggons serviert. Ein Highlight: Beer Train. Vier kleine Biergläser mit unterschiedlichen Biersorten zum Kosten.

drei Modellbahnschienen nebeneinander auf einem Tisch verlegt, von oben beleuchtet mit in Metallgefäße eingefassten Lampen im Vordergrund verlaufen die Schienen in einer Kurve ins Bild und verschwinden nach hinten ins Bild im Hintergrund, ganz vorne in roter Schrift zwischen den Schienen steht „17B“

Die Preise sind nicht gerade niedrig, unsere Burger waren ausgezeichnet. Das Ambiente hat mir persönlich so viel Freude gemacht, dass ich auch problemlos noch mehr bezahlt hätte (obwohl ich sowieso eingeladen war …). Interessant waren auch die Interaktionen mit anderen Besucher:innen. Jede neue Modellbahnfahrt wird von den zuletzt neu angekommenen mit leuchtenden Augen (und in meinem Fall herzhaftem Quietschen) verfolgt und gefeiert. Das zaubert wiederum ein Lächeln in die Gesichter derjenigen, die schon länger dort sitzen und diesen Moment auch erst vor Kurzem erlebt haben.

Frontalansicht von 8 Modellbahnlokomotiven bzw. -waggons, die auf an der Wand montierten Schienen ausgestellt sind, 1. Reihe: eine ganz kleine Lok mit 2 Drehgestellen und einem winzigen brauenen Häuschen darauf mit 3 Fenstern, eine etwas größere braune Lok mit 3 Drehgestellen, ein Waggon mit 6 Drehgestellen und 2 Stromabnehmern, 2. Reihe: große dunkelblaue Lok mit der gelben Aufschrift „SantaFe“, kleine hellblaue Lok mit der weißen Aufschrift „Conrail“, rotbraune Lok mit einem winzigen zentralen Führhäuschen, 3. Reihe: große grünliche Lok mit auffälligem rotem Fahrgestell und zwei Stromabnehmern, dahinter ein blauer Passagierwaggon mit der grauen Aufschrit „Gourmino“

Nach dem Essen verfolgen wir die Schienen und finden heraus, dass das Lokal nach hinten hin noch überraschend viel Platz hat. Es würde mich total interessieren, hier mal zu beobachten, wie alles funktioniert, wenn viel mehr Leute dort sitzen. Dann würden logischerweise auch öfter Bahnen fahren, was wiederum siehe oben …

metallisch bronzefarbene Modellbahnlokomotive auf Schienen, sie steht an der Servierstation und zieht zwei Waggons mit jeweils 4 leeren Getränkehaltern, am Führhäuschen sind zwei Schilder befestigt, einmal der Name Pepa, darunter die Ziffern 202-006, die Lok fährt nach rechts aus dem Bild, nach vorne leuchten drei LEDs als Zugspitzensignal, das oberste hat einen bläulichen Schein

Das waren jetzt viele Worte für ein Restaurant, aber wer mich kennt, weiß eh schon, dass ich mich für Modellbahnen halt übermäßig begeistern kann. Für manche mag es Unsinn sein, mich hat es sehr glücklich gemacht!